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ARTIKEL UND KURIOSITÄTEN

Was riecht denn da so gut? Ein Spaziergang durch die Dünen von Artola

NOVEMBER 2022

Neues Thema > Eryngium maritimum: Die Stranddistel

Mag sein, dass Sie die Sonnencrème der Dame vor Ihnen oder das Rasierwasser des gepflegten Herrn, der an Ihnen vorbeigejoggt ist, in der Nase haben. Aber diese Düfte meine ich hier nicht, obwohl sie die Moleküle der Natur imitieren und freilich in einen ganz anderen Kontext setzen. Nein, ich möchte heute an dieser Stelle über eine weitere Pflanze schreiben, die auch in den Dünen von Artola heimisch ist, nämlich die Stranddistel (Eryngium maritimum), die auf Englisch oft „Sea Holly“ und auf Französisch „Panicaut de Mer“ genannt wird. Diese können Sie im Übrigen nicht nur am Mittelmeer, sondern beispielsweise auch auf den Shetland-Inseln, an den Nord- und Ostseeküsten Deutschlands oder an den Ufern des Schwarzen Meeres bewundern, denn sie ist weit verbreitet. Ihre sehr harten Blätter, die auch schmirgelnden Sandstürmen standhalten müssen, sind von einer bläulichen Wachsschicht bedeckt – diese chemische Substanzklasse habe ich Ihnen ja schon im Zusammenhang mit der Strandlilie (Pancratium maritimum) vorgestellt. In beiden Spezies dient das Wachs der Versiegelung, um Wasserverlust zu minimieren, und als Sonnenschutz. Leider wird auch diese Pflanze oft illegal ausgegraben oder abgepflückt und gilt in weiten Teilen ihres Vorkommens als stark gefährdet. Die Stranddistel blüht im Sommer und duftet ganz herrlich. Was weiß man darüber? Die bisherigen wissenschaftlichen Ergebnisse haben hochinteressante chemische Verbindungen zum Vorschein gebracht!

In der Tat haben sich viele Forschergruppen aus aller Welt die Stranddistel vorgenommen, um die Inhaltsstoffe, meist auf der Suche nach neuen Medikamenten aus der Natur, zu identifizieren. So analysierte eine französische Forschergruppe das ätherische Öl von Stranddisteln, die sie auf Korsika und Sardinien geerntet hatten und fanden 63 verschiedene chemische Verbindungen,1 von denen drei bisher in der Wissenschaftswelt völlig unbekannt waren. Die Hauptkomponente war jedoch Germacren D, das sich weltweit auch an unzähligen anderen Stellen der Natur findet: So z.B. in Balsambaumgewächsen (Burseraceae) in Mittel- und Südamerika und der Karibik,2 zu denen auch der Weihrauchbaum (Boswellia sacra)3 in Somalia, Oman und im Jemen gehört, im australischen Eucalyptus (Eucalyptus dunnii)4 und einem in Afghanistan, dem Himalayagebirge und Tibet vorkommenden Engelwurz (Angelica glauca),5 neben vielen anderen. Der Geruch von reinem Germacren D wird von Parfumeuren als holzig, erdig, würzig, floral, seifig und grün charakterisiert. Germacren D findet sich auch in Basilikum oder in Chirorée, so dass wir an dieser Stelle ein guten Eindruck bekommen können, wie diese Substanz riecht.

Germacren D gehört zur Substanzklasse der Terpene und hat eine recht einfache zehngliedrige Ringstruktur aus Kohlenstoff und Wasserstoff. Seine chemische Strukturformel ist als Molekül 1 im beigefügten Schema gezeigt. Einfache Terpene erkennen Sie an dem berühmten Terpen-Tanzschritt, der da lautet: „eins, zwei, Methyl, drei, vier“. Dieser kommt daher, da Terpene formal aus dem Baustein Isopren zusammengesetzt sind (Molekül 2 im Schema), den wir zum Beispiel auch in unserer Atemluft haben. Wenn Sie die Atome des Isoprens nummerieren, kommen Sie exakt auf den Terpen-Tanzschritt, wenn Sie wissen, dass die CH3-Gruppe „Methylgruppe“ heißt. Wollen Sie den Tanz im musikalisch anspruchsvollen Fünf-Viertel-Takt einmal mit Germacren D versuchen? Beginnen Sie unten rechts mit der 1, das Kohlenstoffatom daneben bekommt die Nummer 2, und an diesem befindet sich, bevor wir zur 3 und 4 kommen, eine Methylgruppe. Alle Naturstoffe, die Sie so nummerieren können, gehören zur Klasse der Terpene. Diese stellen Pflanzen, Insekten und auch Tiere einschließlich menschlicher Lebewesen meist aus aktivierter Essigsäure („Acetyl-CoA“) her, um über aktiviertes Isopren zu sehr komplexen Strukturen zu gelangen. Während Sie diese Zeilen lesen ist ihr Körper u.a. mit der Synthese von Cholesterin und ihren Hormonen wie Testosteron beschäftigt (auch wenn Sie eine Frau sind), die ebenfalls zur interessanten Klasse der Terpene gehören.

Germacrene werden von Pflanzen produziert, um sich gegen Mikroben und den Angriff von Insekten zu schützen. Es wurde aber auch gefunden, dass speziell das Germacren D auf die Neuronen des olfaktorischen Rezeptors in den Antennen mancher Insekten6 wirkt und von diesen offenbar im Sinne einer Kommunikation zwischen Pflanze und Insekt wahrgenommen wird.

Eine der oben erwähnten Neuentdeckungen im ätherischen Öl der Stranddistel (Eryngium maritimum) ist das Cadinenal 3 (s. Schema), das ebenfalls zur Klasse der Terpene gehört. Der Geruch der Stammverbindung, dem Cadinen, wird von Parfumeuren folgendermaßen charakterisiert: frisch, holzig, kräuterig, Vetiver-artig mit Patchouli-Noten, würzig, phenolisch mit Anklängen an Kamille. Die Aldehydgruppe des 2014 neu entdeckten Cadinenals 3 dürfte für zusätzliche frische und grüne Noten im Geruch sorgen. Auch Cadine und Cadinenale sind als Pheromone bekannt: So haben viele Insekten ein Kastensystem, um die anfallende Arbeit in der Insektenkolonie zu verteilen. Die Zusammensetzung dieser Kasten wird dabei durch verschiedene Faktoren wie Pheromone bestimmt, die von speziellen Koloniemitgliedern produziert werden. g-Cadinen und g-Cadinenal sorgen beispielsweise dafür, dass eine Termitenkolonie (Reticulitermes flavipes) Soldaten hervorbringt, die die Kolonie verteidigen.7 Beide Substanzen gehören damit zu kastenstimulierenden oder kastenhemmenden Primerpheromonen und sind ein phantastisches Beispiel für die chemische Kommunikation im Reich der Natur.

In den Wurzeln der Stranddistel finden sich zudem einer Analyse aus dem Jahr 2020 zufolge große Mengen an Menthol und Menthon.[8]  Menthol ist ein sogenannter Terpenalkohol, der sich vor allem in Pfefferminzöl findet (Mentha piperita), aber er trägt auch zum Aroma der klassischen Gewürzmischung der Kräuter der Provence mit Basilikum, Majoran, Oregano, Rosmarin, Salbei und Thymian bei, denn in all diesen Kräutern lässt er sich nachweisen.

So möchte ich Sie animieren, verehrte Leserinnen und Leser, doch einmal mit allen Sinnen durch die Dünen von Artola spazieren zu gehen, die Gerüche der verschiedenen Pflanzen aufzunehmen und zu genießen, und zwar in dem Bewußtsein, dass sie dabei die Sprache der Natur vernehmen. Und wenn Sie dabei vor lauter Begeisterung in den Tanzschritt der Terpene verfallen, umso besser: Eins, zwei, Methyl, drei, vier…….

Prof. Dr. Andreas Schmidt

Clausthal University of Technology

Institute of Organic Chemistry

Clausthal-Zellerfeld (Alemania)

[1]              F. Darriet, S. Andreani, M.-C. De Cian, J. Costa, A. Muselli, Flavour Fragr. J. 2014, 29, 9 – 13.

[2]              K. Noge, J. X. Becerra, Molecules 2009, 14, 5289 – 5297.

[3]              A. Al. Harrasi, S. Al-Saidi, Molecules 2008, 13, 2181 – 2189.

[4]              C. A. Zini, K. D. Zanin, E. Christensen, E. B. Caramão, J. Pawliszyn, J. Agric. Food Chem. 2003, 51, 2679 – 2686.

[5]              V. K. Agnihotri, R. K. Thappa, B. Meena, B. K. Kapahi, R. K. Saxena, G. N. Qazi, S. G. Agarwal, Phytochemistry 2004, 65, 2411 – 2413.

[6]              T. Røstelien, A.-K. Borg-Karlson, J. Fäldt, U. Jacobsson, H. Mustaparta, Chem. Senses 2000, 15, 141 – 148.

[7]              M. R. Tarver, E. A. Schmelz, M. E. Scharf, J. Insect. Physiol. 2011, 57, 771 – 777.

[8]              M. Kikowska, D. Kalemba, J. Dlugaszewska, B. Thiem, Plants 2020, 9(4), 417.

SEPTEMBER 2022

Teil 1: Pancratium maritimum

 Ein blühender Rosenstrauch, der Geruch einer erfrischenden Regenschauer nach einem heißen Sommertag, eine frische Meeresbrise…… Wer von uns ist nicht fasziniert und emotional berührt von der Vielzahl an Düften, die uns in der Natur umgeben? Sie wecken Erinnerungen, machen neugierig, lassen uns durchatmen oder manchmal, wenn sie zu heftig sind, einen Schritt zur Seite tun – und wahrscheinlich sind die Reaktionen auf Düfte so vielfältig wie die Menschen, die sie wahrnehmen. Düfte sind die Sprache der Natur und beruhen auf einer Wechselwirkung von chemischen Molekülen mit Rezeptoren des Riechepithels in unserer Nase. Sie sind die Vokabeln einer in der Evolution sehr lang bewährten Kommunikation zwischen Lebewesen. Sprache der Natur? Was möchte uns denn eine blühende Pflanze sagen, können Sie sich fragen. Nun, diese Sprache ist gar nicht an uns gerichtet, sondern an die Pflanze, die in der Nachbarschaft wächst. Oder an Insekten. Oder an Tiere, die ihren Lebensraum mit der Pflanze teilen. Diese Düfte enthalten Botschaften, die der Verteidigung dienen, sie laden vielleicht zu Symbiosen ein, locken Insekten an und dienen allerhöchstwahrscheinlich auch dem Informationsaustausch zwischen den Spezies. Die Wissenschaft steht ganz am Anfang, in die Geheimnisse dieser chemischen Sprache einzutauchen. Aber was riechen wir denn da, wenn wir durch die Dünen von Artola spazieren gehen? Vielleicht ist dies eine Strandlilie, die im Sommer blüht. Sie kann bis zu 60 cm groß werden, wobei ihre Zwiebel bis zu 140 cm tief im Sand steckt! Die Strandlilie gilt leider als gefährdete Spezies,[1] weil sie abgepflückt oder zertreten wird, wenn sie überhaupt noch geeigneten Lebensraum in Form von Dünen vorfindet.  

Eine Forschergruppe hat vor wenigen Jahren das Duftbouquet der Strandlilie (Dünen-Trichternarzisse, Pancratium maritimum) erforscht, indem sie frische Blüten aus Dünenregionen in Tunesien erntete und ihre flüchtigen Bestandteile chemisch analysierte.[2] Dabei kam heraus, dass die Blüten große Mengen an Kohlenwasserstoffen enthalten, die zum Beispiel 28 Kohlenstoffatome enthalten können und dadurch eine wachsartige Konsistenz aufweisen. Sie stabilisieren als halbfestes Biomaterial die Struktur gegenüber starkem Wind und der schmirgelnden Wirkung der Sandkörner und schützen die Blüten vor dem Austrocknen sowie gegenüber dem gleißendem Sonnenlicht in den Dünen.[3] Die Kohlenwasserstoffe wurden zusammen mit  Palmitinsäure gefunden, einem weit verbreiteten Fettbestandteil, der in Pflanzen, Tieren und Menschen hauptsächlich als Energiespeicher dient. Sie kennen sicherlich „Palmin“ aus Ihrer Küche! Ja, das bekannte Bratfett hat von der Kokospalme ihren Namen, deren Fett eben Palmitinsäure enthält. Warum lagert die Strandlilie Palmitinsäure in ihren Blüten ab? Nun, Kohlenwasserstoffe und Palmitinsäure dienen der Verteidigung der Pflanzen gegenüber Parasiten.[4] Beide bisher genannten Inhaltsstoffe sind aber auch für die chemische Kommunikation der Pflanze sehr wichtig, denn sie speichern als wasserunlösliche Trägermaterialien die Duftstoffe, mit denen die Strandlilie mit ihrer Umgebung Kontakt aufnimmt. Was möchte die Strandlilie ihrer Umgebung mitteilen? Und wem? Das ist bisher unbekannt. Der hier erwähnten Studie zufolge setzt die Strandlilie jedenfalls mehrere äußerst wohlriechende Duftstoffe frei, die selbst wir Menschen mit unserem eher schwach ausgeprägten Geruchssinn riechen können. Zum Duftbouquet gehören hauptsächlich zwei Ester und zwei Alkohole. Der erste Ester ist Benzoësäurebenzylester. Er ist eine wunderbar süßlich-blumig riechende flüssige Substanz, die zum Beispiel auch vom Zimtbaum (Cinnamomum zeylanicum) und von anderen Pflanzen produziert wird und zusammen mit anderen Substanzen auch das Aroma der beliebten Cranberries bildet. Dieser Ester hat eine desinfizierende Wirkung und kann in konzentrierter Form z.B. auch als Medikament gegen Milbenbefall eingesetzt werden. Ein weiterer Duftstoff aus den Blüten von Pancratium maritimum ist der Alkohol 2-Phenylethanol, dessen Duft wir alle aus Hyazinthen, Nelken und Geranien kennen. Dieses Molekül ist aber auch der Hauptduftstoff von Rosenöl und uns daher aus unzähligen Parfums und Seifen wohl bekannt. Und auch aus einem von uns sehr geschätzten Nahrungsmittel, dem Honig, werden sie den Duft kennen. Versuchen Sie doch einmal, den Duft von Honig zu beschreiben, und sie werden sich an die Rose erinnert fühlen! Übrigens ist auch dieser Alkohol desinfizierend. Und schließlich kommen wir zu einer dritten Komponente des Bouquets der Strandlilie, dem Ester Linalylacetat mit seinem frischen süßen Geruch. Nachdem, was Sie bisher gehört haben, wundert es Sie sicher nicht, wenn Sie auch diese chemische Verbindung kennen, denn Linalylacetat ist der Hauptduftstoff des blühenden Lavendels und wird in Südfrankreich in großen Mengen aus Lavendelblüten durch Destillation gewonnen. Geringe Mengen an Farnesol, dessen Duft an Maiglöckchen erinnert, rundet das spezifische Bouquet der Strandlilie ab. Farnesol ist ein bekanntes Insektenpheromon und dies wird ein Grund sein, weshalb es von Pancratium maritimum produziert wird; so wirkt es auf Mückenlarven[5]  (Chironomidae), und Honigbienen (Apis mellifera L.)[6] anziehend und wird von Hummelmännchen (Bombus sp.; Psithyrus sp.)[7] als Markierungsduft benutzt. Insgesamt konnte die Forschergruppe 18 verschiedene Substanzen in den Blüten identifizieren, die zum Duft beitragen.

Nun gäbe es über die Strandlilie noch viel mehr zu berichten: Denn es gibt ja auch noch viele Substanzen, die eben keinen Geruch aufweisen, weil sie nicht flüchtig sind. Hierzu gehören viele Alkaloide, die man aus den Zwiebeln oder auch aus den Blüten von Pancratium maritimum gewinnen kann. Sie haben nicht nur hochinteressante und komplizierte chemische Strukturen, sondern auch viele Wirkungen im Kampf gegen Krankheiten wie Krebs oder Infektionen. Aber das ist ein anderes Thema, über das der Autor dieser Zeilen gern später einmal berichtet. So möchte ich für dieses Mal schließen mit dem Kommentar, dass die Strandlilie, wie alle anderen Pflanzen auch, ein Wunderwerk der Natur ist, voller interessanter Moleküle, aber auch noch voller Geheimnisse in Bezug auf ihre Kommunikation mit Nachbarpflanzen, Insekten oder in den Dünen lebenden Tieren.    

Prof. Dr. Andreas Schmidt

Clausthal University of Technology

Institute of Organic Chemistry

Clausthal-Zellerfeld (Alemania)

[1]               H. Zahreddine, C. Clubbe, R. Baalbaki, A. Ghalayini, S. N. Talhouk, Biol. Conserv. 2004, 120, 11 – 18.

[2]               A. Sanaa, A. Boulila, A. Bejaoui, M. Boussaid, N. B. Fadhel, Ind. Crops Prod. 2012, 40, 312 – 317.

[3]               R. Jetter, L. Kunst, A. L. Samuel, in: M. Riederer, C. Müller, (Eds.), Biology of the Plant Cuticle. Blackwell Publishing, Oxford, 2006, 145 – 181.

[4]               K. Alipieva, L. Evstatieva, N. Handjieva, S. Popov, Z. Naturforsch. C 2003, 58, 779 – 782.

[5]               D. G. Naik, A. A. Babrekar, B. B. Nath, Chem. Ecol. 2006, 22, 501 – 508.

[6]               I. H. Williams, J. A. Pickett, A. P. Martin, J. Chem. Ecol. 1981, 7, 225 – 237.

[7]               B. Kullenberg, G. Bergstrom, B. Bringer, B. Carlberg, B. Cederberg, Zoon 1973, Suppl. 1, 23 – 2

Teil 2: Pancratium maritimum: Einige weitere Geheimnisse….

 Die Natur ist faszinierend, und zwar im Großen und im Kleinen: So beruht das Funktionieren eines ganzen Ökosystems auch auf der chemischen Kommunikation der verschiedenen Spezies, die sich in Bezug auf den Lebensraum, Zugang zu Wasser und Nahrung, Lichteinstrahlung, Schutz vor Fressfeinden oder vor der Witterung mechanisch, biologisch oder chemisch miteinander einigen müssen. Dabei geht es nicht immer friedlich zu. Manche Pflanzen wie beispielsweise der Walnussbaum verbreiten natürliche Herbizide, um ihren eigenen Wachstumsort von anderen Pflanzen frei zu halten. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass unter Walnussbäumen fast nichts wächst? Das ist so, weil der Walnussbaum dies nicht möchte und sich chemisch verteidigt. Doch die Kommunikation zwischen den Spezies ist meist viel filigraner als in diesem Beispiel und dient auch oft der Etablierung und Aufrechterhaltung komplexer Symbiosen. Sehr vieles wird der Forschung erst durch die Entwicklung hocheffizienter Analysenmethoden der Naturwissenschaften möglich, so dass man die chemischen Grundlagen dessen, was die Biologie beobachtet hat, verstehen kann. Sich mit Molekülen zu beschäftigen, die von den verschiedenen Spezies synthetisiert werden und die der chemischen Kommunikation dienen, heißt, die ganze Faszination eines Ökosystems von der Schönheit einer intakten Landschaft bis hinunter auf die Ebene der an ihr beteiligten chemischen Verbindungen zu spüren. In Teil 1 dieser kleinen Serie habe ich Ihnen über das bezaubernde Duftbouquet der Blüten der Strandlilie (Pancratium maritimum) berichtet. Von allen erlebt, die schon einmal in den Dünen von Artola spazieren gegangen sind, verströmt die Strandlilie einen herrlichen Duft, wenn sie blüht. Dieser Duft setzt sich aus verschiedenen Molekülen zusammen, die in langkettigen wasserunlöslichen Kohlenwasserstoffen wie Heptacosan 1 und der Fettsäure Palmitin 2 gelöst und somit kontinuierlich mit dem Wind abgegeben werden können.1 Der eigentliche Duft der Strandlilie hat dann vier Hauptkomponenten, die im angefügten Schema gezeigt sind: Benzoësäurebenzylester 3, 2-Phenylethanol 4, Linalylacetat 5 und Farnesol 6. Hinzu kommen einige Nebenkomponenten, die Parfumeuren ebenfalls allesamt gut bekannt sein dürften. Eine arabische Forschergruppe konnte nun weitere interessante Moleküle aus den Blüten gewinnen, die allesamt cytotoxisch sind und die in diesem Jahr (2022) beschrieben wurden.2 Darunter befinden sich sogenannte Glycoside wie 7, die ein Zuckermolekül wie Traubenzucker enthalten und somit wasserlöslich werden. Solche Moleküle werden bei Regen oder mit dem Tau von der Pflanze abgespült und gelangen so in den Boden, wo der Traubenzucker von Mikroorganismen als Nahrung abgebaut wird, zunächst nicht jedoch der Rest des Moleküls. Dieser entfaltet dann eine biologische Wirkung im Boden. So ist es auch beim bereits erwähnten Walnussbaum, der seinen Platz verteidigen möchte. Auch er nimmt sich für seine Kommunikation Mikroorganismen zuhilfe, mit denen er diesbezüglich in Symbiose lebt. Welche biologische Rolle das Molekül 7 bei Pancratium maritimum spielt, muss an dieser Stelle Spekulation bleiben. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass hier eine Kommunikation stattfindet, die wir noch nicht verstehen. Die arabische Forschergruppe fand neben etlichen anderen Molekülen auch Kaffeesäure 8 in den Blüten, die in großen Mengen, nämlich zwischen 25 und 75 mg pro Tasse, auch in unserem Kaffee enthalten ist. Verwandte Strukturen finden sich auch in den Zwiebeln der Pflanze.3 Nun ist die Zwiebel der Strandlilie chemisch noch viel interessanter als die Blüten, denn sie ist eine Quelle für andere komplizierte Strukturen aus dem Reich der Alkaloide, von denen viele medizinische Wirkungen haben. Verschiedene Forscher aus Bulgarien4 und der Türkei,5 die hier beispielhaft für viele andere Forschungsgruppen erwähnt werden sollen, konnten aus den Zwiebeln dutzende verschiedene Alkaloide isolieren, d.h. Stickstoff-haltige Moleküle. Von diesen trägt das Molekül 9 sogar eine aus dem Namen der hier betrachteten Pflanze abgeleitete Bezeichnung: Pancracin. Dieses Mitglied der Gruppe der Pancratiumalkaloide,6 das auch in anderen Pflanzen gefunden wird, ist für die Therapie von Krebserkrankungen interessant.7 So ist die Strandlilie für verschiedene Wissenschaftszeige eine Quelle der Inspiration und man könnte über sie ganze Bücher schreiben. In fast 120 Publikationen sind allein die bisherigen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Chemie dieser Pflanze zusammengefasst, hinzukommen etliche aus der Pharmakologie, Medizin und Biologie. Daher ist die Strandlilie nicht nur wegen ihrer Rolle im Ökosystem, beispielsweise in den Dünen von Artola, und wegen ihrer ausgesprochenen Schönheit und Eleganz uneingeschränkt schützenswert, sondern auch  weil sie aus chemischer Sicht ein Wunderwerk der Natur und noch immer voller Geheimnisse ist.    

 

Prof. Dr. Andreas Schmidt

Clausthal University of Technology

Institute of Organic Chemistry

Clausthal-Zellerfeld (Alemania)

[1]               A. Sanaa, A. Boulila, A. Bejaoui, M. Boussaid, N. B. Fadhel, Ind. Crops Prod. 2012, 40, 312 – 317.

[2]               D. T. A. Youssef, L. A. Shaala, A. E. Altyar, Plants 2022, 11, 476.

[3]               D. T. A. Youssef, M. A. Ramadan, A. A. Khalifa, Phytochemistry 1998, 49, 2579 – 2583.

[4]               S. Berkov, L. Evstatieva, S. Popov, Z. Naturforsch. 2004, 59c, 65 – 69.

[5]               B. Bozkurt, G. I. Kaya, N. U. Somer, Nat. Prod. Commun. 2019, 14 (10), 1 – 4.

[6]               J. C. Cedrón, M. Del Arco-Aguilar, A. Estévez-Braun, Á. G. Ravelo, in: The Alkaloids: Chemistry and Biology 2010, 68, 1 – 37.

[7]               D. Koutová, R. Havelek, E. Peterová, D. Muthná, K. Královec, K. Breiterová, L. Cahliková, M. Rezácová, Int. J. Mol. Sci. 2021, 22(13), 7014.

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